top of page

Der wundersame Weihnachtsbaum

 

Es ist der vierte Advent und jetzt steht sie also hier, mit einer Kiste voller Weihnachtsschmuck, aber ohne Mann. Was macht man mit fünfundzwanzig roten und ebenso vielen goldenen Kugeln, wenn man niemanden hat, für den man sie aufhängen kann?

Denn wozu soll sie einen Weihnachtsbaum schmücken, wenn doch Hermann, mit dem sie sechsunddreißig Weihnachtsabende verbracht hatte, mit einer viel zu vollbusigen, viel zu jungen Frau an der Costa Smeralda sitzt? (Sie hat ein Bild von ihr gesehen. Im roten Bikini klebte sie auf seinem Schoß und verdeckte seinen Bauch.)

„Ach Mama“, versucht ihre Tochter sie zu trösten, als sie ihr wutentbrannt davon am Telefon erzählt. „Was brauchst du in deinem Alter noch Männer? Du kommst doch gut allein zurecht.“

„Und wie soll ich Weihnachten feiern?“, entgegnet sie. „Es ist ja keiner da!  Du feierst mit den Schwiegereltern und dein Bruder ist wie jedes Jahr im Skiurlaub….“

 

Ihre Tochter überlegt kurz. „Geh doch in die Kirche..!“, schlägt sie vor und klingt, als sei sie in Eile. „Das gefiel dir doch früher auch immer so gut…“

„Früher hatte ich auch zwei Kleinkinder, die das Krippenspiel liebten“, will Berta erwidern, aber da hat ihre Tochter schon aufgelegt.

Berta schnaubt vor Wut. Kirche! Die alten Männer angeln sich junge Dinger und was bleibt für die alten Frauen? Die Kirche. Ha! Dass ich nicht lache! Ihr graust bei dem Gedanken, zu einer dieser Veranstaltungen zu gehen, die in ihrer Gemeinde angeboten werden. Veranstaltungen, die so Namen haben wie „Weihnachten für Einsame“.

Da kann man sich ja gleich einen Aufkleber auf die Brust pinnen: „Ich bin gescheitert.“

Nein, so etwas kommt für sie nicht in Frage. Sie will sich nicht arrangieren mit ihrem Unglück.

„Ich will einen Mann“, sagt Berta und hört sich selbst erstaunt zu. Aber da sie es nun einmal ausgesprochen hat, merkt sie, dass es stimmt.

Sie will mit vierundsechzig noch nicht liebes-berentet sein. Dann fange ich eben noch einmal an, denkt sie trotzig und packt die Kugeln zurück in die Kiste.

Sie müssen weg, die alten Kugeln und auch der ganze restliche Klimbim: die Sterne, das

Lametta, die Rauschgoldengel, die Wachskerzen, die Lichterkette….

Und die Murano-Glasanhänger, die ihr Hermann damals von seiner Italienreise mitgebracht hatte, erst recht. Berta denkt einen Moment nach. Zum Wegwerfen sind sie zu schade. Sie könnte die ganze Kiste auf den Markt stellen, das machen neuerdings viele so. Irgendwer nimmt immer etwas mit.

Keuchend hievt sie alles die Treppe runter und schleppt die Kiste durch die Straßen, bis sie schließlich auf dem Marktplatz vor der großen Tanne steht. Stimmt, denkt sie, hier steht ja auch ein Weihnachtsbaum. Kahl sieht die Tanne aus. Und so gar nicht weihnachtlich. Berta hat sich schon immer gefragt, warum die Stadt zwar das Geld für einen großen Weihnachtsbaum aufbringt, es dann aber versäumt, ihn vernünftig zu schmücken. Einen Moment erwägt sie, das selbst nachzuholen, aber dann fällt ihr etwas Besseres ein. Sie zieht einen roten Pappstern aus dem Karton, kramt in ihrer Handtasche nach einem Stift und schreibt in großen Buchstaben: „Ich wünsche mir einen Mann“ auf den Stern. Dann hängt sie den Stern an den Baum und betrachtet zufrieden ihr Werk. Den Rest lässt sie einfach stehen und geht nach Hause. In dieser Nacht schläft sie zum ersten Mal seit Monaten traumlos und gut.

 

Am nächsten Tag putzt sie die Wohnung, am Mittwoch fährt sie zu einer alten Freundin aufs Land. Als sie am Donnerstag einkaufen geht, hat sie den Baum und ihren Stern längst vergessen….

Berta schlendert mit ihrer Einkaufstasche über den Markt, kauft hier etwas ein und dort auch. Und als ihr Blick eher zufällig auf den Weihnachtsbaum fällt, traut sie ihren Augen nicht!

Der Baum ist über und über mit Zetteln behängt. Es gibt ausgeschnittene Sterne in Rot und Gelb und Pink und irgendjemand hat sogar eine Krone gebastelt. Auf den Sternen haben Leute ihre Wünsche hinterlassen. Genau wie sie. Berta kann es kaum fassen. Neugierig sieht sie sich die Sterne genauer an…

 

„Ich wünsche mir ein Pferd“, liest Berta. Darunter hat jemand geschrieben: „Ich habe ein Pferd! Wenn du willst, komm einfach mal auf dem Pferdehof vorbei.“ Daneben steht eine Telefonnummer. Wie nett, denkt Berta und greift nach einem weiteren Zettel: „Ich möchte einmal eine Weihnachtsgans probieren. Aber sie ist zu teuer.“  Übermütig holt Berta ihren Stift heraus. „Wenn es weiter nichts ist: Kommen Sie zu mir.“ Und auch sie notiert ihre Nummer daneben. „Ich wünsche mir eine Oma“ liest sie auf dem nächsten Stern, und darunter: „Ich bin eine Oma. Wollen wir uns treffen?“  „Ich spiele so gern Rommé. Aber meine früheren Mitspieler sind leider schon alle gestorben.“  „Ich wünsche mir neue Freunde.“ Drei Namen stehen bereits daneben.

 

Es gibt Wünsche nach Fahrrädern, Hasen, einer schlankeren Taille, einem neuen Anfang, nach einem Kind, nach einer Wohnung mit Badewanne, nach einem glücklicheren Jahr, einer Zwei in Mathe, nach Frieden in der Heimat, nach englischen Pralinen, einem Wochenende in den Bergen und vielem mehr. Da entdeckt Berta ihren eigenen Stern wieder. In schwarzen Buchstaben hat jemand etwas dazugesetzt:  „Wie alt sind Sie? Und wie sehen Sie aus?“  Sie schreibt: „Ich bin 64 und sehe blendend aus. (Glauben Sie, ich würde etwas anderes sagen?).“  Ein zweites Mal gibt sie ihre Telefonnummer preis und stößt einen kleinen  Juchzer aus, weil alles so aufregend ist.

Berta kann es kaum fassen. Wer hätte das gedacht, dass mein Wunsch sich so schnell verselbständigt? Nachdenklich wiegt sie ihren Kopf. Und überhaupt: Wer hätte geahnt, dass so viele Menschen Wünsche haben? Was so ein kleiner Stern alles bewegen kann, denkt Berta und ihr wird dabei ganz warm ums Herz. Weihnachten ist eben immer noch die Zeit der Erfüllung…

Eine Weile hängt Berta diesen Gedanken nach. Plötzlich bemerkt sie, dass um sie herum lauter fröhliche Menschen stehen, die „ihren“ Weihnachtsbaum bewundern.  „Ist das nicht herrlich?“, lächelt eine rotbemützte Frau.  „Das ist besser als jeder Weihnachtseinkauf, das ist ein Weihnachtswunder. Wer das angezettelt hat, muss ein Engel sein!“  Erstaunt bemerkt Berta, dass die Augen der Frau feucht sind. Berta, Berta, denkt sie, was hast du da bloß angerichtet? Und errötet dabei ein bisschen.

                                                              

(Susanne Niemeyer)

bottom of page